1.3 Allgemeine Röntgendiagnostik
Die Röntgenuntersuchung liefert bei den rheumatischen Erkrankungen
des Gleit- und Stützgewebes die bildgebenden Basisinformationen, wenn
folgende Prinzipien beachtet werden:
-
Medizinische Bildgebung heißt Abbildung der Makromorphologie oder
Beobachtung der Makrofunktion.
-
Informationen erhält nur derjenige, welcher sie abfragt, die Sprache
des informierenden Mediums (in Wort und) im Bild beherrscht oder die Symbole
des empfangenen Codes entschlüsseln kann.
-
Bildgebend vermittelte Informationen sollen möglichst genau, müssen
aber nicht lückenlos sein. Oft genügt die Information über
die "Spitze des Eisbergs", um eine drohende Gefahr zu erkennen und ihr
therapeutisch handelnd zu begegnen.
-
Zunahme der Anschaulichkeit einer Bildinformation bedeutet nicht unbedingt
Zunahme des Informationsgehalts.
-
Die Auswahl des technisch-apparativen Mediums der Bildgebung muß
auch nach ökonomischen Maßstäben im Sinne der Kosten-Nutzen-Relation
getroffen werden.
Darüber hinaus gelten zwei methodische Postulate (A und B), die zur
optimalen Bildgebung mit Röntgenstrahlen - Röntgendiagnostik
- beachtet werden müssen.
Postulat A. Die erkrankte Knochenverbindung wird in zwei möglichst
senkrecht zu einander stehenden Ebenen röntgenuntersucht. |
Ausnahmen und Besonderheiten
Hand
Auch für die Hand gilt grundsätzlich das Postulat, sie in 2-Ebenen
röntgenuntersuchen. Oft werden Erosionen erst auf der Röntgenaufnahme
in der 2. Ebene sichtbar. Bei arthritischen Erkrankungen empfiehlt sich
die Einstellung zur 2. Ebene als 45°-Halbsupination, bei Traumen die
sog. Zitherspieler-Haltung. Bei Ausschließlicher Beurteilung der
Handwurzel wird als 2. Ebene die seitliche Aufnahme, also die Einstellung
senkrecht zur dorsovolaren Aufnahme, gewählt. Bei (vermuteter) Karpalinstabilität
gehören Streßröntgenaufnahmen in aktiver Ulnar- und Radialduktion
sowie bei Faustschluß (Belichtung während der Muskelanspannung)
auch bei rheumatischen Erkrankungen zum Informationsprogramm.
Akromioklavikulargelenk
Die anterior-posteriore Röntgenaufnahme bei Außenrotation, 90°-Abduktion
im Schultergelenk und 90°-Beugung des Ellenbogengelenkes bildet erosive
und sonstige arthritische Phänomene im Akromioklavikulargelenk ab.
Im Einzelfall geben Streß-Röntgenaufnahmen unter Gewichtbelastung
(beiderseitiges Tragen von je 3 bis 4 kg Gewichten) vergleichende
Auskunft über die akromioklavikuläre Kapsel-Band-Stabilität/Instabilität,
die auch durch entzündliche Zerstörungen ausgelöst werden
kann.
Sternokostoklavikularregion
Die adäquate Röntgenaufnahmetechnik und -methodik ist die eingeblendete
Zielaufnahme bzw. sind mehrere Zielaufnahmen oder die konventionelle Tomografie
(in Bauchlage besser als in Rückenlage). Bei sternoklavikulärer
Fehlstellung und beim Akquirierten Hyperostose-Syndrom (2, 3) (Synonyme:
pustulöse Akroosteitis, Spondarthritis hyperostotica pustulo-psoriatica,
SAPHO-Syndrom) werden durch die Computertomographie ergänzt.
Fuß
Mit der dorsoplantaren Einstellung und der dorsoplantaren Schrägaufnahme
wird die Röntgendiagnose und -differentialdiagnose entzündlicher
Erkrankungen gestellt. Diese Feststellung bezieht sich allerdings nur auf
den Vorfuß, denn zur röntgenologischen Darstellung des gesamten
podalen Gleit- und Stützgewebes sind weitere Aufnahmen nötig:
an Stelle der Schrägaufnahme des Vorfußes eine Schrägaufnahme
des gesamten Fußes, eine seitliche tibiofibulare Rückfußaufnahme,
die auch das Talokruralgelenk mit abbildet, sowie die anteriorposteriore
Röntgenaufnahme des Talokruralgelenkes bei 10 - 15° Innenrotation
des Fußes. Zur Aufdeckung relevanter Fußdeformitäten können
Aufnahmen unter Belastung sinnvoll sein.
Tibiofibulargelenk
Der Einblick in dieses Gelenk auf der seitlichen Röntgenaufnahme des
Kniegelenkes gelingt ohne Informationsverlust über die Kniekonturen
und -strukturen durch Unterpolsterung und dadurch bedingter Anhebung der
Ferse. Bei gezielter Fragestellung nach der Makromorphologie des Tibiofibulargelenkes
muß die Ferse um etwa 45° angehoben werden.
Hüftgelenk
Die Standardröntgenaufnahme bei (Verdacht auf) Koxarthritis erfolgt
in anteriorposteriorer Einstellung. Bei atraumatischen Erkrankungen sollte
- falls überhaupt notwendig - als 2. Ebene die Röntgenaufnahme
in Froschposition (nach Lauenstein) bevorzugt werden. Die konventionelle
Tomografie wird zusätzlich bei diagnostisch unklaren umschriebenen
Struktur- und Konturveränderungen der Knochensockel des Hüftgelenkes
eingesetzt.
Sakroiliakalgelenk
Die diagnostisch weiterführende Ergänzung zur anterior-posterioren
Röntgenaufnahme in Rückenlage (Hüft- und Kniegelenk soweit
gebeugt, daß die Fußsohlen dem Rasteraufnahmetisch aufliegen,
dabei um 5° kranialwärts gerichteter sogenannter Zentralstrahl
- Dihlmann 1978) ist die konventionelle Tomografie (1 cm Schichtebenenabstand,
evtl. 0,5 cm Zwischenschichten). Die von verschiedenen Autoren angegebenen
sakroiliakalen Spezialeinstellungen einschließlich der Schrägaufnahme
sind bei (Verdacht auf) rheumatische(n) Erkrankungen obsolet. Die sakroiliakale
Computertomografie ist die unökonomischere Alternative der konventionellen
Tomografie oder wird im Frühstadium der Sakroiliitis vom Typ "buntes
Bild" (Spondylitis ankylosans und andere seronegative Spondarthritiden)
mit -20°-Gantrykippung (kopfwärts) als Tomografie in der 2. Ebene
komplementär eingesetzt, wenn Sakroiliakaldysplasien die Deutung der
Konventionellen Tomogramme erschweren.Bei infektiösen Sakroiliitiden
liefert die Computertomografie mehr Informationen (Erguß, Weichteilabszeß)
als die konventionelle Tomografie.
Schambeinfuge
Zum bildgebenden Informationsprogramm über die Symphysis pubica gehören
bei rheumatischen Erkrankungen die anteriorposteriore Übersichtsaufnahme
und evtl. die konventionelle Tomografie. Weichteilschäden werden dadurch
nicht direkt abgebildet. Zielaufnahmen der Symphyse bei Standbeinwechsel
können jedoch eine (auch entzündlich bedingte) Symphysenlockerung
nachweisen.
Temporomandibulargelenk
Bei den rheumatischen Erkrankungen sind röntgenologisch nur durch
die seitliche konventionelle Tomografie (gewöhnlich in Zonografietechnik)
verläßliche Informationen zu gewinnen. In bequemer schräger
Bauchlage wird der Kopf des Patienten so gedreht, daß die zu untersuchende
Seite filmnahe liegt und dabei zusätzlich das Kinn leicht zur Aufnahmefläche
gedreht. Diese Einstellung gewährleistet, daß Caput und Collum
mandibulae sowie der aufsteigende Unterkieferast (Fibroostitis des Processus
coronoideus?) in einer Ebene liegen.
Wirbelsäule
Die Wirbelsäulenabschnitte werden bei rheumatischen Erkrankungen einzeln
in 2 Ebenen (anterior-posterior, seitlich) im Liegen oder Stehen (Sitzen)
röntgenuntersucht. Lendenwirbelsäule und Kreuzbein sind eine
Abbildungseinheit. Daher wird die anterior-posteriore Röntgenaufnahme
nur soweit eingeblendet, daß die Sakroiliakalgelenke noch beurteilt
werden können. Dies erspart eine gezielte Röntgenuntersuchung
der Sakroiliakalgelenke - nicht aber die evtl. notwendige Tomografie. Auch
für die Darstellung der Sakroiliakalgelenke auf der Lendenwirbelsäulenaufnahme
gilt, daß bei klinisch begründetem Verdacht auf Sakroiliitis
im Rahmen einer seronegativen Spondarthritis auch bei völlig normalem
Röntgenbefund erst die konventionelle Schichtuntersuchung (oder Computertomografie)
das "bunte Sakroiliakalbild" (s. oben) wiedergeben kann. Schrägaufnahmen
der Lendenwirbelsäule zur Diagnose einer Spondylitis ankylosans sind
obsolet; denn die anfangs sehr zarten Kapselverknöcherungen der Wirbelbogengelenke
bei der ankylosierenden Spondylitis werden nicht nur leicht übersehen,
sondern treten auch als Phänomene der Spondylarthrose auf. Röntgenaufnahmen
des thorako-lumbalen Überganges sind bei großen Menschen erforderlich
und fördern grundsätzlich die Suche und Entdeckung von Syndesmophyten;
im thorakolumbalen Übergang sind nämlich bei der Mehrzahl der
Patienten mit Spondylitis ankylosans die ersten Syndesmophyten zu erwarten.
Prinzipiell ist die ankylosierende Spondylitis eine versteifende Erkrankung.
Die Rheumatoide Arthritis begünstigt dagegen die bewegungssegmentale
Instabilität. Dadurch kann das Rückenmark bedroht werden. Der
häufige Befall des zervikalen Wirbelsäulenabschnitts einschließlich
des okzipito-zervikalen Überganges erfordert bei Halswirbelsäulenbeschwerden
rheumatoider Arthritiker entweder zusätzliche seitliche zervikale
Funktionsröntgenaufnahmen in Ante- und Retroflexion oder statt der
primären Röntgenuntersuchung der Halswirbelsäule in 2 Ebenen
werden sogleich 3 Aufnahmen angefertigt (Halswirbelsäule anterior-posterior,
seitlich in Anteflexion, seitlich in Retroflexion). Die Funktionsaufnahmen
enthüllen manchmal die Instabilität überhaupt erst oder
geben ihr wahres Ausmaß wieder. Entzündliche Lockerungen im
okzipitozervikalen Übergang - am häufigsten im Atlantodentalbereich:
ventrale Atlasdislokation - führen nicht nur zu einer vergrößerten
vorderen Atlantodentaldistanz (bei Erwachsenen über 3 mm), sondern
in Abhängigkeit vom Ausmaß der Atlasverschiebung auch zu einer
vertikalen Densdislokation. Erstere bedroht das Rückenmark, letztere
die Medulla oblongata. Anstelle der verschiedenen okzipitozervikalen Meßlinien
sollte bei rheumatischen Erkrankungen die seitliche konventionelle Tomografie
des okzipitozervikalen Überganges in Anteflexion durchgeführt
werden. Sie hat 3 Informationsvorteile:
-
Das wahre Ausmaß der ventralen Atlasdislokation wird dargestellt.
-
Sie zeigt nicht nur das genaue Ausmaß des Denshochtritts durch das
Foramen magnum an, sondern kann Densspitzenerosionen sichtbar machen. Die
erosionsbedingte Abnahme der Denshöhe setzt die Gefahr der Medullaschädigung
durch die vertikal dislozierte, aber mehr oder weniger abgebaute Densspitze
herab ("rettende Densspitzenerosion").
-
Im seitlichen Tomogramm kann sich die sogenannte "Alarmerosion" an der
Densrückfläche offenbaren. Diese typisch lokalisierte retrodentale
Erosion weist auf entzündlich-rheumatische Synovialisproliferationen
hin, die vom hinteren Kompartiment des Atlantodentalgelenkes - Articulatio
atlantoaxialis mediana - ausgehen. Dieses Granulationsgewebe erodiert den
Dens axis von hinten und bedroht die Medulla von vorne. Die retrodentale
Erosion ist daher ein Alarmsignal für eine drohende oder bereits klinisch
erkennbare Rückenmarksschädigung.
Der Nachweis einer retrodentalen Alarmerosion stellt die imperative Indikation
zur Magnetresonanztomografie, die das wuchernde entzündlich-rheumatische
Granulationsgewebe direkt abbildet.
Postulat B. Paarig angelegte Gelenke sollen paarig röntgenuntersucht
werden. |
Bei den Sakroiliakalgelenken ist diese Forderung eine Selbstverständlichkeit.
Am Hüftgelenk sollte sie akzeptiert werden, weil die anteriorposteriore
Röntgenaufnahme fast immer zur Diagnose oder zum Ausschluß einer
(rheumatischeu) Koxarthritis führt. Die Beckenübersichtsaufnahme
ist bei rheumatischeu Erkrankungen die bessere, da informationsreichere
Alternative zur Röntgenuntersuchung des (eines) Hüftgelenkes
in 2 Ebenen. Sie ermöglicht nicht nur den Vergleich mit dem kontralateralen
(gesunden) Hüftgelenk, sondern bildet gleichzeitig auch Prädilektionsstellen
bestimmter rheumatischer Krankheiten mit ab (beide Sakroiliakalgelenke,
Schambeinfuge, Sehneninsertionen vor allem am Sitzbein - Fibroostitis?).
Das Postulat B läßt sich prinzipiell begründen: Die Arthritis,
welcher Ätiologie auch immer, gibt sich im Röntgenbild sukzedan,
wenn auch oft überlappend, an den Weichteilzeichen (im Arthritisfrühstadium
durch den Erguß), durch die arthritischen Kollateralphänomene
(Knochendefizit in den Gelenksockeln) und an den arthritischen Direktzeichen,
z. B. konzentrische reaktionslose Verschmälerung des röntgenologischen
Gelenkspaltes und Erosionen, zu erkennen. Diskrete artikuläre und
periartikuläre Weichteilschwellungen und -verdichtungen sowie gelenknahe
Entkalkungen und die Gelenkspaltverschmälerung lassen sich früher
und sicherer durch den Vergleich mit der gesunden Seite feststellen - vorausgesetzt,
die Patientenlagerung, die Einstelltechnik, die Belichtungsdaten usw. sind
identisch. Diese Prämissen sind am besten gewahrt, wenn beispielsweise
beide Hände, Vorfüße usw. auf einem Röntgenbild simultan
belichtet werden. Vor allem ökonomische, aber auch strahlenhygienische
Gründe ("Röntgenstrahlen so viel wie nötig, so wenig wie
möglich") stehen der generellen Realisierung des Postulates B entgegen
und werden daher zur ethischen Entscheidung des Arztes und Patienten.
Beurteilung von Verlaufsserien
Qualitätssicherung heißt nicht nur Selbstkontrolle, sondern
ist auch dem Vergleich der eigenen Bildträger mit denjenigen anderer
Autoren (bzw. diagnostizierender, behandelnder Ärzte) verpflichtet.
Namentlich bei chronischen Gelenkerkrankungen werden im Laufe der Jahre
oft zahlreiche Röntgenaufnahmen angefertigt, die als ein wichtiges
Kriterium des Erfolges/Mißerfolges der Therapie den lokalen röntgenmorphologischen
Befund widerspiegeln. Um bei der Auswertung solcher bildgebender Verlaufsserien
nicht allzu subjektiver Beurteilung zu erliegen, sind verschiedene Scores,
z. B. der sog. Larsen-Score (4) vorgeschlagen worden. Vor allem der Hand-
und Vorfuß-Score haben sich in der Praxis bewährt. Diskutiert
wird vor allem noch darüber, in welchen Zeitabständen beispielsweise
die zu vergleichenden Röntgenaufnahmen angefertigt werden sollen.
Als Regel kann gelten, daß in den ersten zwei bis drei Jahren der
Rheumatoiden Arthritis halbjährliche Kontrolluntersuchungen durchgeführt
und mit dem Score beurteilt werden sollen. In späteren Jahren genügen
dagegen ein- bis zweijährliche Kontrolluntersuchungen.
Literatur
-
Dihlmann W (1978) Röntgendiagnostik der Sakroiliakalgelenke und ihrer
nahen Umgebung. 2. Aufl. Thieme, Stuttgart
-
Dihlmann W, Dihlmann SW (1991) Acquired hyperostosis syndrome: spectrum
of manifestations at the sternocostoclavicular region. Radiologic evaluation
of 34 cases. Clin Rheum 10: 250 - 263
-
Dihlmann W (1993) Akquiriertes Hyperostose-Syndrom (sog. pustulöse
Arthroosteitis). Literaturübersicht einschließlich 73 eigener
Beobachtungen. Wien klin Wschr 105: 127 - 138
-
Larsen A, Dale K, Eek M (1977) Radiographic evaluation of rheumatoid arthritis
and related conditions by standard reference films. Acta Radiol Diagn 18:
481 - 491