1.2 Körperliche Untersuchung

Neben der Anamnese steht die klinische Untersuchung im Mittelpunkt der rheumatologischen Diagnostik. In diesem Text können nur die wichtigsten Elemente dargestellt werden. Es ist daher dringend zu raten, sich die notwendigen Fertigkeiten durch Übungen unter Anleitung oder Beschäftigung mit der Literatur anzueignen.

Grundkomponenten der klinischen Untersuchung

Inspektion Palpation
Notabene. Bei Vorliegen eines Ödems ist es sehr wichtig, durch genaue Palpation zwischen einer Schwellung der Gelenkkapsel bzw. des periartikulären Gewebes und einem diffusen Ödem der nichtartikulären Weichteile (z. B. spondylogen ausgelöst, bei Kollagenosen) zu differenzieren; dies betrifft besonders den Handbereich um die Fingergrundgelenke.
  • Subkutis: Lipomatosis, Lipatrophie; u. a. Roll- und Kneifschmerz.
  • Muskulatur: Tonus, Verhärtungen, Verspannungen (Myogelosen), Druckpunkte, Trigger points (vom Druckpunkt ausstrahlender Schmerz).
  • Sehneninsertionen um die großen Gelenke und im Stammbereich: Ausschluß von Enthesiopathien.
  • Sehnen und Bursen: Tendovaginitis (Krepitation, "schnappende" Sehnen), Sehnenknoten, Bursitis.
  • Gelenke: Hyperthermie; möglichst getrennte Erfassung von Erguß, Kapsel bzw. Synovialisschwellung (= "weiche" Schwellung); "harte" Schwellung durch knöcherne Auftreibungen, Osteophyten; Reibephänomene; Blokkade durch Kapselschrumpfung, freie Gelenkkörper.
  • Längen- und Umfangsmaße

    Vergleichende Messungen sind bei Beinlängendifferenzen, Muskelatrophien usw. angezeigt.

    Funktionsprüfungen

    Untersuchungsgang

    Bei jedem Kranken - auch mit nur lokal eng begrenzten Symptomen - ist zuerst die beschwerdeintensivste Region, danach zumindest eine orientierende Untersuchung des gesamten Bewegungsapparates erforderlich. Dabei sollte man sich eine gewisse Reihenfolge angewöhnen.

    Wirbelsäule

    Deformierungen und pathologische Hautfalten, z. B. der sog. osteoporotische "Tannenbaum" sind schon bei der Betrachtung auffällig. Es ist nach spinalen, interspinalen und paravertebralen Druckpunkten zu suchen und die Beweglichkeit in allen drei Ebenen zu prüfen.

    Iliosakralgelenke

    Die diagnostische Bedeutung der verschiedenen Schmerzzeichen wird oft überschätzt. Am verläßlichsten sind der Druck auf die Steißbeinspitze in Bauchlage, der Druck auf die Schulter bei einseitigem Stand und das Mennellsche Zeichen (2, 3).

    Schulter

    Schmerzpunkte finden sich besonders am Ansatz der Supraspinatussehne (seitliche obere Schulterpartie zwischen Akromion und Tuberculum minor) und an der langen Bizepssehne im Sulcus intertubercularis. Die Prüfung/Messung berücksichtigt die Abduktion, Elevation, Innenrotation (Schürzengriff, Abstand Daumen-Vertebra prominens von unten) und Außenrotation (Nackengriff, Abstand Daumen-Vertebra prominens von oben). Besonders wichtig ist die Untersuchung auf Schmerzhaftigkeit bei Bewegungen gegen den Widerstand des Untersuchers zum Nachweis der verschiedenen Sehnenläsionen.

    Ellenbogen

    Druckpunkte finden sich am Epicondylus lateralis (radialis) und medialis (ulnaris) sowie des Nerven im Sulcus nervi ulnaris. Bei artikulären Prozessen ist der Gelenkspalt druckschmerzhaft. Eine Bursitis kann genuin oder  z. B. bei Arthritis urica und Rheumatoider Arthritis auftreten.

    Hand und Finger

    Bei der Inspektion sind u. a. die Farbe und Beschaffenheit der Nägel, Schwellungen im Bereich des Canalis carpi (als Zeichen eines Karpaltunnelsyndroms) und Veränderungen der Fingerform zu beachten. Die Palpation berücksichtigt jedes Einzelgelenk der Hände - Radiocarpal- (RC), Carpometacarpalgelenk 1 (CMC 1, Daumenwurzelgelenk), Metacarpophalangealgelenke (MCP) 1 - V, proximale (PIP) 11 - V und distale Interphalangealgelenke (DIP) 1 - V. Dabei werden die PIP-Gelenke von vier Seiten, mit beiden Daumen und Zeigefinger des Untersuchers gleichzeitig-alternierend, jedes DIP-Gelenk durch abwechselnden Daumendruck von zwei Seiten abgetastet. Ein Schmerz bei seitlichem Druck der Fingergrundgelenke (Gänsslen-Zeichen) gilt als Frühsymptom einer Arthritis. Die typischen Hand- und Fingerdeformitäten (Caput ulnae-Syndrom, Ulnardrift, Schwanenhals- und Knopflochdeformitäten, Wurstfinger) sowie ein Faustschlußdefizit werden registriert.

    Hüftgelenke

    Die Untersuchung im Stand dient besonders dem Nachweis von Abweichungen in der horizontalen und sagittalen Ebene des Beckens. Bei Schiefstand ist dessen Ausmaß durch Unterlegen von Holzblättchen verschiedener Stärke zu ermitteln. Am liegenden Patienten werden die Druckpunkte am Trochanter major, an der Kapsel und Muskulatur, die grobe Kraft und alle Bewegungsrichtungen geprüft. Eine durch Streckhemmung im Kniegelenk vorgetäuschte Hüftbeugekontraktur läßt sich durch Untersuchung in Bauchlage diagnostizieren.

    Kniegelenke

    Neben der Registrierung von Varus- und Valgusdeformitäten, der Prüfung auf Hyperthermie, einer sorgfältigen Palpation zum Ausschluß von synovialen Schwellungen bzw. Erguß, der Ermittlung des Bewegungsumfanges ist auf Meniskus- und Chondropathie-Zeichen (2, 3) zu achten.
     
    Notabene. Bei nicht ausreichender palpatorischer Klärung eines Gelenkbefundes, besonders im Bereich von Schulter-, Hüft- und Kniegelenk, ist unbedingt eine sonographische Untersuchung angezeigt.

    Füße

    In diesem Bereich ist bei der Untersuchung besonders auf vaskuläre (Gefäßpalpation) und neurologische motorische (Zehen- und Fersenstand) bzw. sensible Ausfälle zu achten. Im übrigen werden auch hier statische (Senk-, Spreiz-, Platt-, Hohlfuß) und Zehendeformitäten sowie Schwellungen der Zehen ("Wurstzeh") bei reaktiver und Psoriasis-Arthritis registriert. Die palpatorisehe Untersuchung erstreckt sich auf Muskelverspannungen, Schwellungen und Druckpunkte an der Ferse (kaudaler und dorsaler Fersensporn, Achillessehne) und an den Gelenken sowie auf den Nachweis passiver Bewegungseinschränkungen der oberen und unteren Sprunggelenke und der Zehengelenke. Der seitliche Druckschmerz an den Zehengrundgelenken (Gänsslen-Zeichen des Fußes) spricht wiederum für eine Arthritis.

    Dokumentation der Befunde

    Eine übersichtliche Dokumentation, am besten mit einem Mannequin und Symbolen, ist die Grundlage für eine Verlaufsanalyse und Therapieerfolgsermittlung. Ein einheitliches Dokumentationssystem wird derzeit von einer Arbeitsgruppe des Modellverbundes BMG-geförderter Rheumazentren erarbeitet.

    Literatur

    1. Gesellschaft Medizinischer Assistenzberufe für Rheumatologie e. V (Hrsg) (1990) Rheumatologische Anamnese- und Befunddokumentation für Medizinische Assistenzberufe. EULAR-Verlag, Basel
    2. Hoppenfeld S (1983) Klinische Untersuchung der Wirbelsäule und der Extremitäten. Volk und Gesundheit, Berlin
    3. Keitel W (1993) Differentialdiagnostik der Gelenkerkrankungen. 4. Aufl. Gustav Fischer Jena, Stuttgart
    4. Müller W, Zeidler H (1993) Die Klinisch-rheumatologische Untersuchung. Reihe Medizin von heute. Tropon Werke, Köln-Mülheim